„Es dauert, bis der Krieg im Kopf aufhört“: Oberarzt Marc nach dem Einsatz in der Ukraine

Anfang der 90er Jahre hat Dr. Marc Zoller, heute Oberarzt für Anästhesie und Intensivmedizin in den DRK Kliniken Berlin Köpenick, eine Weile in Russland studiert und Russisch gelernt. Die politische Lage dort hat er seither verfolgt und mit großer Sorge Anfang 2022 den Truppenaufbau an den Grenzen zur Ukraine beobachtet. Als der Krieg begann, wusste er sofort: Ich will etwas tun. In diesem sehr offenen Interview erzählt er, was er beim Einsatz dort erlebt hat und wie schwer die Rückkehr war.

Wie kam es zu Deinem Einsatz in der Ukraine?

Ich bin ansonsten wirklich eher ein vorsichtiger Mensch, aber als der Angriffskrieg in der Ukraine begann, wurde ich immer unruhiger. Mir wurde ganz komisch zumute und ich dachte die ganze Zeit: Da muss man doch was tun!

Es gab einen Aufruf der Bundesärztekammer, sich in eine Liste einzutragen, wenn man für einen Einsatz in der Ukraine zur Verfügung steht. Ich habe unseren Leitenden Oberarzt in der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der DRK Kliniken Berlin Köpenick gefragt, ob man mich für drei Wochen entbehren könnte, und er hat sofort gesagt: „Das wird wohl gehen müssen.“

Dann habe ich dem Geschäftsführer Dr. Christian Friese geschrieben, dass ich mich für drei Wochen unbezahlt freistellen lassen möchte, und er schrieb gleich zurück: „Wir zahlen Ihnen Ihr Gehalt natürlich weiter. Sehen Sie zu, dass Sie loskommen.“ Das ist wirklich etwas Besonderes in unserem Unternehmen, dass sowas unkompliziert ermöglicht wird! Woanders wäre das sicher nicht gegangen. Dabei ist es schwer, während einer Coronawelle im Winter auf einen Oberarzt zu verzichten. Die Kolleg*innen mussten meine Arbeit übernehmen, insofern war mein Einsatz ein echter „Team effort“!

Wie ging es weiter?

Mit dem Einsatz über die Bundesärztekammer wurde es nichts, die Aktion ist gnadenlos gescheitert. Sie haben nie jemanden entsandt, sondern erst, als ich längst zurück war, den Ärzt*innen auf ihrer Liste geschrieben, sie mögen sich doch lieber an die Hilfsorganisationen wenden. Das hatte ich längst getan. Über Freunde wurde ich an die kleine Berliner Hilfsorganisation Cadus e.V. vermittelt. 24 Stunden, nachdem ich mich dort gemeldet hatte, kam der Anruf, dass es losgeht. Zwei Tage nach meinem Gespräch mit dem Leitenden Oberarzt war ich auf der Autobahn Richtung Ukraine!

Normalerweise gibt es vor solchen Einsätzen in Krisengebieten Vorbereitungskurse mit Teambuilding Maßnahmen und Übungen zum Umgang mit Gefahrensituationen. Man muss sein Testament schreiben und Notfallkontakte hinterlegen. Bei mir ging es so schnell, dass vieles davon ausfiel. Wir waren insgesamt vier Kollegen mit zwei Autos voll beladen mit Nahrungsmitteln, warmen Decken, Mitteln der hausärztlichen Grundversorgung, Medikamenten und zwei intensivmedizinischen Arbeitsplätzen. Ein so genanntes Emergency Medical Team (EMT) Kategorie 1 nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das ist sozusagen eine mobile Intensivstation und Erstversorgungsstelle, die binnen 24 Stunden einsatzbereit sein muss. Der Cadus e.V. ist eine der wenigen Organisationen in Deutschland, die so ein Team unterhält.

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Wie hat Deine Familie reagiert?

Ganz überraschend kam meine Entscheidung für sie nicht, denn sie hatten ja in den Wochen zuvor erlebt, dass ich mit dem Gedanken spielte zu helfen. Als es konkret wurde, habe ich nur meine Freundin und meinen volljährigen Sohn informiert. Sie sind sehr sozial und solidarisch eingestellt, aber natürlich kam auch die Frage: Warum musst denn ausgerechnet Du da hin, kann das nicht jemand anders machen?

Wer zu einem solchen Einsatz aufbricht, bekommt viel Aufmerksamkeit entgegengebracht, aber dabei wird übersehen, dass die Angehörigen eine der Hauptlasten tragen. Es ist eben nicht so, dass man als erwachsener Mensch nur für sich selbst die Entscheidung trifft, ein Risiko einzugehen. Stattdessen lädt man seiner Familie eine Last auf, obwohl die nicht darum gebeten hat. Es war eine Zumutung für meine Angehörigen, das ist mir im Nachhinein klar. Sie haben sich große Sorgen gemacht.

Wenn sie im Fernsehen oder auf Twitter die neuesten Schreckensnachrichten aus dem Krieg gesehen haben, konnten sie das aus der Ferne schlecht einordnen, ob mich das betraf. Ich habe mir angewöhnt, selbst die Nachrichten zu verfolgen, und immer, wenn Dramatisches berichtet wurde, sofort nach Hause zu schreiben oder über meine Organisation ausrichten zu lassen, dass mir nichts passiert war.

Was war eure Aufgabe in der Ukraine?

Als wir losfuhren, wussten wir noch gar nicht, wo wir genau eingesetzt werden würden und welche Aufgaben auf uns warteten. Das koordinierte unsere Organisation erst, als wir schon unterwegs waren. Wir standen mit hunderten anderen „Grass Root“-Teams und Einzelpersonen, die helfen wollten, etwas orientierungslos an der Grenze. Aber im Gegensatz zu anderen ist Cadus e.V. über die WHO-Koordination vor Ort sehr gut vernetzt und wir bekamen recht schnell unseren Einsatzauftrag.

Rückblickend ist man hier zulande anfangs schön naiv gewesen. Wir dachten, wir kämen in ein Land ohne medizinische Versorgung und würden vielleicht ein Krankenhaus wiederaufbauen. Doch wir trafen auf super ausgebildete Kolleg*innen, die auch unter Kriegsbedingungen sehr gut arbeiteten. Die Idee der Bundesärztekammer, tausende von Ärzten in die Ukraine zu schicken, ging völlig am Bedarf vorbei. Vielmehr fehlte es und fehlt weiterhin an Material, Geräten und Medikamenten.

Wir haben in Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern einen medizinischen Evakuierungsdienst auf Intensivniveau aufgebaut. Verletzte und chronisch Kranke konnten ja nicht ausgeflogen werden. Wir haben sie übernommen und teils über irrsinnig lange Strecken, 1000km, aus dem Land gefahren und dabei medizinisch betreut. Zuerst dialyse- oder beatmungspflichtige Kinder, später auch Erwachsene. Wir haben uns mit Fahren, Schlafen und der Versorgung der Patient*innen abgewechselt. Ich war zunächst der einzige Arzt im Team, habe also die medizinische Führung übernommen.

Zwischendurch haben wir bei Unterstützern der Hilfsorganisation im Wohnzimmer auf dem Boden geschlafen, manchmal konnte man auch mitten im Krieg ein Hotelzimmer oder eine Air B’n’B Unterkunft bekommen. Dann wieder saßen wir bei irgendjemandem im Keller, weil es einen Angriff gab. Das ist alles sehr grotesk.

Wie hast Du persönlich und psychisch den Einsatz weggesteckt?

Ich habe vorher im Gegensatz zu meinen Kolleg*innen im EMT keine Erfahrung mit humanitären Hilfseinsätzen gesammelt. Die anderen waren zum Beispiel im Irak bei der Befreiung von Mossul dabei gewesen. Sie kannten dieses Chaos am Anfang, das lange Warten.

Im Einsatz gibt es oft nur zwei Situationen. Entweder man hat nichts zu tun, langweilt sich und weiß nicht, was als nächstes kommt. Währenddessen kommuniziert das Monitoring Team zu Hause mit den staatlichen Stellen und kundschaftet aus, welche Routen man befahren kann, welche Orte gerade angegriffen werden. Dann gibt es wieder einen Notfall, angsteinflößende Situationen, man muss lange am Stück wach sein und funktionieren, bekommt ständig neue Informationen. Das ist auf die Dauer sehr anstrengend, ein Wechselbad der Gefühle, darum sind die Einsätze auch auf drei Wochen begrenzt.

Die Rückkehr nach Deutschland war für mich schwieriger als gedacht. Es gibt am Ende des Einsatzes eine Nachbesprechung („De-Briefing“) und das Angebot einer Supervision durch Psycholog*innen. Ich habe zuerst gedacht, wir waren ja nicht an der Front. Mein Einsatz ist nicht zu vergleichen mit dem von Ärzt*innen, die frisch Verletzte nach einem Bombenangriff versorgen.

Aber trotzdem, es dauert, bis der Krieg im Kopf aufhört. Es ist ganz schön schwer, sich hinterher wieder daran zu gewöhnen, dass es eine Menge Dinge zwischen schlafen, essen und arbeiten gibt, zwischen wichtig und unwichtig. Dinge, um die man sich auch kümmern muss. Die schlechten Träume hörten schneller auf.

Aber ich habe auch viele positive Begegnungen in Erinnerung behalten. Ich netzwerke gerne und habe viele Kontakte geknüpft, die ich jetzt am Leben erhalte. Die Menschen in der Ukraine sind fast wie hier. Manche freundlich, andere unfreundlich, manche sympathisch, andere sperrig. Was sie erleben, ist unvorstellbar. Sie wollten wie jeden Tag ihr Kind in die Kita bringen und zur Arbeit gehen und dann kam ein Anruf: „Ihr müsst sofort weg, es gibt einen Angriff.“ Dann flohen sie, die Familie zerstreute sich in alle Himmelsrichtungen. Ich habe viele Menschen getroffen, die ihre Angehörigen verloren hatten, irgendwo in einem Auffanglager gelandet waren und sich sofort eine Möglichkeit gesucht haben, sich für andere Geflüchtete zu engagieren.

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Wie engagierst Du Dich seit Deiner Rückkehr nach Deutschland weiter?

Ich habe als einer von wenigen deutschen Intensivmediziner*innen, die sich auf Russisch mit den Ukrainern unterhalten können, meine Nische als Vermittler gefunden. Ich kann ein Bindeglied sein, fragen, was genau gebraucht wird, was funktioniert und was nicht. Das ist vor allem bei Medikamenten und bei technischer Hilfe entscheidend. Das Engagement wird immer breiter. Ich habe mich darum gekümmert, dass Geflüchtete beherbergt und in Krankenhäuser in Deutschland aufgenommen werden konnten. Aktuell haben wir 1.000 Winterschlafsäcke besorgt und mit unseren örtlichen Partner*innen in die Ukraine geliefert. Als nächstes wollen wir Notstromaggregate beschaffen. Unser Vorteil ist, dass wir für jeden einzelnen Euro Spende die Verwendung bis zum*zur  Endverbraucher*in belegen können.

Ich habe dabei auch Unterstützung meiner Kolleg*innen. Manche kann ich um Wegedienste bitten, hier etwas abholen, dort etwas hinbringen. Die DRK Kliniken Berlin haben ausrangierte medizinische Geräte in großer Menge gespendet und von einigen Führungskräften habe ich wirklich sehr großzügige finanzielle Zuwendungen bekommen. Aber ich freue mich genauso über ein Pflegeteam, das 100 Euro gesammelt hat und mir das in kleinen Scheinen nach dem Nachtdienst in bar in die Hand gedrückt hat. Mit Geld können wir am besten agieren, aber in Rücksprache nehmen wir auch gerne geeignete Sachspenden.

Wenn mir dagegen jemand eine große Ladung Babynahrung kurz vor dem Ablaufdatum, Altkleidung oder Ähnliches anbietet, muss ich leider absagen, obwohl mir das schwerfällt. Ich habe weder die Kapazitäten, noch die Kontakte, um das zu verteilen. Auf meiner Website kann man sich informieren, wie genau wir am besten unterstützt werden können.

Möchtest Du Dich beruflich in Richtung Entwicklungshilfe orientieren?

Ich würde gerne würde gerne noch einmal einen dreiwöchigen Einsatz in der Ukraine absolvieren, aber eine erneute Freistellung ist nicht in Sicht. Ich mag meinen Job hier wirklich sehr gern. Natürlich könnte die Arbeitsbelastung gern etwas weniger sein – gerade während der Haupt-Pandemiezeit war alles sehr viel. Aber ich habe noch kein Krankenhaus erlebt, in dem die Zusammenarbeit im Team, zwischen den Berufsgruppen und zwischen den Medizinern der verschiedenen Fachabteilungen so gut war wie hier!

Ich bin über den Zivildienst an meinen Beruf gekommen. Ich war im Rettungsdienste eingesetzt und bekam auch eine Ausbildung als Rettungssanitäter – und wer sind die großen Helden eines jungen Rettungssanitäters? Die Notärzt*innen, oft Anästhesist*innen! Ehe ich’s mich versah, steckte ich mitten im Medizinstudium. Die Chirurgie fand ich auch spannend, aber dort hat mir der Umgangston nicht gefallen – dass waren noch andere Zeiten damals. Mit Umwegen über die Neurologie bin ich in der Intensivmedizin gelandet und möchte dort auch bleiben.

Aber nebenberuflich werde ich mich immer engagieren. Mir schwebt vor, eine institutionelle Partnerschaft zwischen den DRK Kliniken Berlin und einem Krankenhaus in der Ukraine aufzubauen. Aktuell sammeln wir Spenden für ein tragbares Ultraschallgerät für den Rettungsdienst in Charkiw/Ostukraine. Ich mache das alles, weil es mir Freude macht und weil es sich sinnvoll anfühlt – nicht aus Pflichtgefühl oder wegen eines schlechten Gewissens.

Text: DRK Kliniken Berlin / Maja Roedenbeck Schäfer

Aline Creifelds, am 08. Februar 2023
Arzt | Ärztin, Köpenick
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