„Ich würde es wieder tun, in jedem Land der Welt“: Wundexpertin Belgin nach dem Einsatz im Erdbebengebiet

Unsere Wundexpertin Belgin Cetinkaya aus der Diabetologie am Standort Mitte ist gerade von einem freiwilligen Einsatz im Erdbebengebiet in der Türkei zurückgekommen. Zwei Wochen ohne Dusche, zwei Wochen in derselben Kleidung, zwei Wochen einfach nur funktionieren und helfen trotz erschütternder Erlebnisse. Erst bei der Ankunft am Flughafen BER flossen die Tränen, als nicht nur ihre beste Freundin und Kollegin Anais Bouton sondern auch Teamleiterin Martina Nieke und Pflegedienstleiterin Christine Baermann unsere mutige Mitarbeiterin empfingen.

Triggerwarnung: Die beschriebenen Inhalte in diesem Interview können für Leser*innen verstörend sein.

Wie kam es zu Deinem Einsatz im Erdbebengebiet?

Ich kam nach einem Nachtdienst in den DRK Kliniken Berlin Mitte nach Hause, schlief bis zwölf Uhr mittags und als ich aufwachte, stand eine meiner drei erwachsenen Töchter im Schlafzimmer: „Mama hast Du mitbekommen, was passiert ist? Es gab ein Erdbeben in der Türkei!“ Wir schalteten den Fernseher ein und jeder türkische Sender war voll von Nachrichten über das Ereignis. Ich war schockiert und mir flossen die Tränen über die Wangen, als ich die Bilder sah. In dem Moment sagte eine Stimme in mir: „Ich muss dorthin gehen, ich muss helfen.“

Ich bin zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber ich spüre dennoch eine enge Bindung an die Türkei. Meine Vorfahren kommen von dort, ich spreche Türkisch, wir verbringen jedes Jahr zwei Wochen Urlaub dort. Mein Mann und ich telefonierten zwei Tage lang und versuchten, Informationen über unsere Freunde und Bekannten herauszubekommen, und erfuhren von vielen, dass sie nicht überlebt hatten.

Ich habe mich im türkischen Konsulat in Berlin gemeldet und meine Hilfe angeboten, bekam auch eine Bestätigung per Email als freiwillige Helferin aus dem Bereich medizinisches Fachpersonal. Es war trotzdem nicht einfach, denn ich musste mich mit diversen Behörden in der Türkei auseinandersetzen. Ich kontaktierte meinen Neffen, der als Arzt in Izmir lebt, dass ich die Genehmigung hätte und mich ihm anschließen wollen würde, wenn er ins Erdbebengebiet geht.

Ich war richtig sauer und schockiert als ich gehört habe, dass er keine Genehmigung bekommen hatte zu helfen. Also habe ich mich an einen engagierten Arzt aus Düsseldorf gewandt, dem ich schon seit drei Jahren auf Instagram folge, und er war tatsächlich gerade dabei, einen Einsatz zu koordinieren. Die tagelange Warterei wegen der Bürokratie hat mir das Herz zerrissen!

Mit 52 Freiwilligen, darunter 17 Ärzt*innen und 25 Pflegekräften bin ich neun Tage nach dem Erbeben endlich – als einzige Wundexpertin der Gruppe – in die Türkei aufgebrochen. Es war wirklich Schicksal, dass ich kurz vorher meine Fortbildung im Wundmanagement abgeschlossen hatte – eine Kompetenz, die man in der Erstversorgung unbedingt braucht!

Die berührende Geschichte zum Ukraine-Einsatz von Marc, Oberarzt in den DRK Kliniken Berlin Köpenick, findest Du hier.

Wie verlief der Start in der Türkei?

Wir kamen nachts um zwei Uhr an, hatten kaum geschlafen, es war eiskalt und wir hatten viel zu dünne Schlafsäcke, in die wir angezogen hineinkrochen. Zuerst wurden wir in Zelten im Stadion von Hatay untergebracht. Erst einige Tage später bekamen Soldaten den Auftrag, die freiwilligen Helfer zu schützen, weil wir keine Einheimischen, sondern deutsche Staatsbürger*innen waren. Die Regierung konnte nicht riskieren, dass uns etwas passiert, und wir zogen auf ein Armeegelände um.

Wir sahen die ganzen Trümmer, selbst nach über einer Woche wurden immer noch Menschen und Tiere gerettet. Doch in den ersten Tagen muss es am schlimmsten gewesen sein, erzählten uns die anderen Helfer*innen. Bis zum vierten Tag hätten sie die Stimmen und Schreie von Frauen und Kindern unter dem Schutt gehört.

Wir mussten vor Ort sehr viele akute Wunden versorgen. Ich hatte für die Wundversorgung Materialien aus der Apotheke meines Mannes mitgenommen. Wir haben auch zwei Menschen helfen können, die noch lebendig aus den Trümmern geborgen worden waren. Ihre Körper waren zerquetscht, aber geistig waren sie voll da. Wir haben die Erstversorgung übernommen und dann den Hubschrauber angefordert.

Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die Angehörigen zu beruhigen und ihnen beizustehen. Ich habe Verstorbene in Leichensäcken verpackt, darunter auch Kinder. Wir legten sie an den Straßenrand, wo sie von LKW abgeholt wurden. Wenn es Verwandte gab, die die Verstorbenen identifizieren konnten, bekamen sie ein Namensetikett, ansonsten eine Nummer. Es war kein schöner Anblick und zerriss mir das Herz.

Wir sind auch in die Dörfer gefahren, um dort medizinische Unterstützung zu leisten. Sehr viele Kinder hatten Fieber – virale oder bakterielle Infektionen durch die Wetterbedingungen. Menschen, die an chronischen Erkrankungen litten, fehlte es an Medikamenten, weil ihre Häuser eingestürzt waren und es keine Apotheken oder Krankenhäuser gab, wo man sie hätte besorgen können. Zum Glück hatten meine Helfergruppe und ich Medikamente aus Deutschland mitgebracht, was sehr geholfen hat. Leider hatten wir nicht alle notwendigen Medikamente und waren manchmal genauso hilflos, versuchten aber, sie zu organisieren. Was mich und mein Team wütend machte war, dass es keine adäquate Koordination der Einsatzkräfte gab.

Wie war die Stimmung im Helferteam?

Alle waren extrem traurig, aber dennoch stark motiviert. Jeder von uns hat alles gegeben, um den Menschen zu helfen. Wir bekamen wenig Schlaf, weil wir lange unterwegs waren, manchmal von 7 Uhr morgens bis 20 oder 21 Uhr abends. Wir konnten auch kaum etwas essen oder trinken. Einerseits weil die hygienischen Bedingungen furchtbar waren und wir vermeiden wollten, allzu oft auf die Toilette zu müssen. Andererseits aber auch, weil wir wussten, dass es Menschen unter den Trümmern gab, die vielleicht tagelang nichts zu essen und zu trinken gehabt hatten.

Ich muss ehrlich sagen, wenn ich mich hätte gehenlassen, wäre ich zusammengebrochen. Aber ich habe mich darauf konzentriert, dass ich stark bleiben muss und dass die Menschen meine Hilfe brauchen. Nach zwei Wochen habe ich gedacht: „Jetzt bist Du richtig drin in dieser Aufgabe, jetzt könntest Du auch noch länger bleiben.“ Aber viele aus unserer Gruppe kamen psychisch nicht mehr klar, deswegen haben die Ärzt*innen die Entscheidung getroffen, dass es Zeit ist, nach Hause zu fahren.

Wir sollten als Gruppe zusammenbleiben und außerdem hatte der Organisator bereits die nächsten 50 Hilfskräfte zusammengestellt, die uns ablösen sollten. Uns wurde erklärt, dass die Phase der Erstversorgung nun vorbei sei und für die weitere Versorgung große Zelte aufgebaut werden müssten. Nun würden auch Fachkräfte gebraucht, die die psychologische Versorgung gewährleisten oder langfristige Verletzungen wie Brüche behandeln könnten. Inzwischen waren auch endlich die Helfer*innen der türkischen Regierung vor Ort. Also bin ich schweren Herzens abgereist.

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Wie ist es Dir seit Deiner Rückkehr ergangen?

Ich musste erstmal zwei Tage in unserer Wohnung in Izmir verbringen, weil ich mit dieser Trauer in mir nicht meinen drei Töchtern entgegentreten wollte. Ich musste das alles erstmal verarbeiten. Als mich meine beste Freundin und Kollegin Anais Bouton, meine Stationsleiterin Martina Nieke und Pflegedienstleiterin Christine Baermann am Flughafen mit Blumen und einer Karte mit einem Herz und Unterschriften der Kolleg*innen am Flughafen begrüßten, war ich unglaublich gerührt!

Als ich zu Hause war, hatte ich immer noch ein Kloß im Hals. Seitdem kann ich kaum schlafen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich schreckliche Bilder und höre Stimmen und Schreie. Darum habe ich schon nach wenigen Tagen wieder angefangen zu arbeiten und versuche, mich damit abzulenken. Trotz allem würde ich es wieder tun – in einem Erdbebengebiet helfen. Und zwar nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt, wo eine solche Katastrophe passiert. Die Nationalität ist mir egal, wenn Menschen in Not Hilfe brauchen.

Ich halte Kontakt zum Roten Halbmond in der Türkei und zu meiner Helfergruppe, in der echte Freundschaften entstanden sind. Auf Wunsch meines Mannes habe ich ein Einsatztagebuch geführt, damit er immer wusste, was ich erlebte. Ich habe für mich entdeckt, dass man durch das Schreiben das Geschehene verarbeiten kann und dass es mir gut tut zu schreiben. Darum werde ich das Tagebuch weiterführen.

Meine Stationsleiterin Martina Nieke, die Stellvertretung Nora Krauße und mein Team unterstützen mich, wo sie nur können, und sie sind froh, dass ich gesund wieder hier bin. Die Pflegedienstleiterin Christine Baermann hat mir empfohlen, mir psychologische Hilfe zu suchen, was ich auch gemacht habe. Die Unterstützung, die ich von meinem Arbeitgeber bekommen habe, ist sowieso unglaublich. In unserer Helfergruppe war ich von den 25 Pflegekräften die einzige, die mein Gehalt während des Einsatzes weitergezahlt bekam.

Martina, meine Stationsleitung, und Anais besuchten mich, nachdem ich mich für den Einsatz gemeldet hatte, zu Hause. Nicht, um mich davon abzubringen, sondern um mich vorzuwarnen, dass das etwas mit mir machen würde. Und mir zu sagen, dass sie sich Sorgen um mich machen. Denn während der Coronazeit, als so viele Patient*innen verstarben, hatte ich schonmal das Gespräch gesucht und gesagt, dass mir das langsam alles zu viel wird. Aber letztendlich hat es mich stark gemacht für meinen Einsatz im Erdbebengebiet.

Wie bist Du zu den DRK Kliniken Berlin gekommen?

Ich bin so froh, dass ich bei den DRK Kliniken Berlin arbeite und nirgendwo anders! Ich habe erst mit 34 Jahren beschlossen, die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin zu machen. Vorher war ich Maßschneiderin. Die Entscheidung habe ich noch keinen Tag bereut. Es ist ein wunderschöner und sehr wertvoller Beruf. Mein Team ist fast wie Familie. Meine Pflegedienstleiterin Christine Baermann und ihre Stellvertreterin Sylvia Nehdo haben immer ein offenes Ohr für mich. Sie unterstützen mich, wo sie können. Ich kann mit meinen Sorgen zu ihnen gehen und sie haben immer einen Rat für mich. Ich bin nicht nur eine Nummer wie die Kolleg*innen in manchen anderen Krankenhäusern – ich bin die Schwester Belgin im DRK.

Schon während der Ausbildung hier im Unternehmen habe ich sehr viel Unterstützung bekommen, weil ich ja schon 20 Jahre nicht mehr in der Schule war und es nicht mehr gewohnt war zu lernen. Ich habe auch andere Stationen kennengelernt: die Thoraxchirurgie, die Gefäßchirurgie, die Pulmologie. Aber die Diabetologie hat mich am meisten begeistert, einmal wegen des besonders tollen Teams und weil sie die beiden Fachrichtungen Chirurgie und Innere Medizin vereint. Die Wundversorgung, mit der man hier auch häufig zu tun hat, fand ich schon immer spannend, und deswegen habe ich die Fortbildung zur Wundexpertin gemacht. Man wird bei den DRK Kliniken Berlin in seiner beruflichen Weiterentwicklung sehr gefördert. Man bleibt nicht stehen, sondern lernt immer weiter.

Text: DRK Kliniken Berlin / Maja Roedenbeck Schäfer

Aline Creifelds, am 09. März 2023
Aktuelles, Mitte
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