Palliativschwester Manja steht mit dem Rücken an der Wand, Gesundheitsmanager Mathias tut so, als wolle er sie würgen. Pflegefachfrau Nathalie von der Intensivstation soll zeigen, was sie in einem solchen Fall tun würde, und tritt dem Angreifer in die Kniekehlen. Das bringt leider gar nichts. Wie sie in Gewaltsituationen im Krankenhausalltag sinnvoller einschreiten können, lernen derzeit 200 unserer Pflegefachkräfte im körperlichen Deeskalationstraining mit Danièl Lautenschlag.
Innerhalb eines Jahres absolvieren 200 Teilnehmer*innen in mehreren Kursgruppen zwölf Trainingseinheiten à 3 Stunden – alles während der Arbeitszeit. Denn Hemmungen müssen überwunden, Handgriffe automatisiert werden, und das braucht Zeit. Ein Deeskalationsprogramm in dem Umfang wie bei den DRK Kliniken Berlin gibt es in keinem anderen Gesundheitsunternehmen – höchstens bei der Polizei oder beim Sicherheitsdienst. Leider ist es notwendig geworden, denn regelmäßig kommt es auch bei uns zu Angriffen von Patient*innen und Angehörigen gegenüber Klinikmitarbeitenden.
Bereits seit gut vier Jahren bietet unser hauseigener Deeskalationsmanager Ronny darum Workshops dazu an, wie man Konfliktsituationen frühzeitig erkennen und angemessen darauf reagieren kann – vor allem mit Worten. „Aber es gibt einen Punkt, an dem kommt man verbal nicht mehr weiter“, sagt Danièl Lautenschlag. „Ich weiß, dass gerade die sozial eingestellten Mitarbeitenden im Gesundheitswesen oft bis zuletzt hoffen, dass sich ein Konflikt von selbst in Luft auflöst.“ Diese Hoffnung erfülle sich aber immer öfter nicht. Und dann sei es besser, sich darauf einzustellen, dass früher oder später körperliche Deeskalationstechniken im Arbeitsalltag angewandt werden müssen, als sich davon überraschen zu lassen und handlungsunfähig zu sein. Genau aus diesem Grund bieten wir die Deeskalationstrainings auch in der Pflegeausbildung an – damit auch dem Nachwuchs von Anfang an klar wird, dass dieses Thema heute leider zum Beruf dazugehört.
Alle Teilnehmer*innen im heutigen Kurs – je drei aus der Notaufnahme, der Intensivstation und der Palliativstation, zwei aus der Station für Abhängigkeitserkrankungen der DRK Kliniken Berlin Mitte – erinnern sich an Situationen, in denen sie Gewalt erlebt haben. Christian, der inzwischen auf der Intensivstation arbeitet, war mal in der Notaufnahme dabei, als sich eine Patientin unter der Behandlungsliege verschanzt hatte, die EKG-Kabel gefährlich um den Hals gewickelt, und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte herauszukommen. Ärzt*innen und Pflegekräfte fingen sich Tritte und Schläge ein.
Umila wurde zur Unterstützung in die Psychiatrie gerufen, um dort bei einer Fixierung zu helfen. Typische Fälle sind aber auch verängstigte Wartende in der Notaufnahme, die handgreiflich werden, weil sie ihre Verletzung nicht sofort einem*r Arzt*Ärztin zeigen dürfen, oder Angehörige, die den Sinn einer Besuchsregelung nicht verstehen und versuchen, sich mit Gewalt Zugang zu verschaffen.
In solchen Situationen gilt es, angemessen zu reagieren. Und das lernen unsere Pflegekräfte im körperlichen Deeskalationstraining. Kampfsport ist das nicht, „Verhältnismäßigkeit“ ein wichtiges Stichwort im Kurs, das häufig fällt. „Wenn jemand mich angreift, warum darf ich ihm dann nicht zum Beispiel zwischen die Beine treten?“, fragt Pflegefachmann Santi. Er macht seit drei Jahren Kickboxen und kommt aus Palermo, Sizilien, wo er auf der Straße schon Gewalt erlebt hat. Selbstverteidigung ist ihm nicht fremd.
Doch zunächst gilt es, weitere Aggressionen wenn irgend möglich zu vermeiden. „Manchmal reicht schon ein kleines körperliches Stoppsignal, damit das Gegenüber erkennt, dass es zu weit gegangen ist“, erklärt Danièl Lautenschlag. „Mehr ist dann gar nicht mehr nötig.“ Gewalt ist nur als Notwehr oder Notwehr für Dritte erlaubt. „Ein Türsteher bekommt keine Probleme, wenn er bei einer Kneipenschlägerei einem Beteiligten ein blaues Auge verpasst, während er ihn rausschmeißt – einer Pflegekraft darf das nicht passieren.“
Die Deeskalationstechniken sollen die Würde des Patienten und der Pflegekraft wahren, sodass der eine nicht gedemütigt und dadurch noch aggressiver wird und die andere später noch in den Spiegel schauen kann, ohne sich Vorwürfe für ihr Verhalten zu machen. Erstaunlicherweise funktioniert das mit den gezielten, schnellen Handgriffen von Danièl Lautenschlag, auch wenn sie manchmal etwas brutal wirken, besser, als wenn man unkoordiniert und planlos zu mehreren Pflegekräften versucht, eine aufgebrachte Person festzuhalten. Bei keiner der gezeigten Methoden besteht Verletzungsgefahr.
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Wie die Tricks genau aussehen, können wir hier natürlich nicht verraten, denn mögliche Angreifer*innen könnten daraus lernen und ihre Strategien anpassen. Die Maßnahmen entstammen jedenfalls keiner bestimmten Sportart, sondern der Berufserfahrung des Experten, der im Alter von sechs Jahren mit dem Kampfsport angefangen und mit einem Studentenjob als Türsteher seine berufliche Karriere begonnen hat. 41 Jahre Leistungs- und Profikampfsport von Mixed Martial Arts bis Bareknuckle Boxing brachten ihn schließlich dazu, ein Unternehmen zu gründen und sein Wissen nun dort weiterzugeben, wo es noch wenig bekannt ist – im Gesundheitswesen.
„Bei YouTube gibt es viele Selbstverteidigungs-Tutorials, die in einer echten Notfallsituation nicht funktionieren“, erklärt Gesundheitsmanager Mathias den Kursteilnehmer*innen. „Wir haben bei der Entwicklung des Curriculums jeden Handgriff hinterfragt: ob er funktioniert, ohne dass ich dafür komplizierte Abläufe üben muss, ob er funktioniert, wenn der Angreifer stärker ist als ich oder wenn ich nicht besonders sportlich trainiert bin“, ergänzt Danièl Lautenschlag. Möglichst wenige Techniken, die auf möglichst viele Situationen anwendbar sind – das ist das Motto.
Was wir aus dem ersten Trainingsmodul mitgenommen haben, ist, dass eigentlich alles, was man instinktiv zur Selbstverteidigung so versucht, wenig Effekt hat. In die Kniekehlen zu treten, dem Angreifer auf den Rücken zu springen oder ihn mit den Fingernägeln zu kratzen. Die Teilnehmer*innen probieren es selbst aneinander aus. Gegenseitig auf Tuchfühlung zu gehen, ist dabei nicht das Problem, denn sie sind menschliche Nähe aus dem Arbeitsalltag gewohnt. Das Problem ist eher, auch unangenehme Berührungen auszuüben.
Die Unsicherheit wird mit viel Gelächter überspielt. „Können wir das nochmal sehen?“, witzelt ein Teilnehmer, als Danièl Lautenschlag unseren Gesundheitsmanager Mathias zu Boden bringt. „Schaut mal, wie sie spurt!“, kichert ein anderer, als es ihm gelingt, seine Kollegin mit nur einer Hand auf Abstand zu halten. Danièl schmunzelt: „Es freut mich, dass ihr Spaß habt, aber bei der nächsten Übung müssen wir uns konzentrieren.“ Es geht jetzt darum zu erkennen, wann die echte Schmerzgrenze beim Gegenüber erreicht ist, und diesen Punkt nicht zu überschreiten.
„Ich hatte erwartet, dass wir eher Gesprächstechniken lernen würden, aber es geht um körperliche Tricks“, staunt Umila. Sie arbeitet auf der Station für Abhängigkeitserkrankungen der DRK Kliniken Berlin Mitte, wo das Risiko besteht, dass Menschen mit Entzugserscheinungen oder noch unter Einfluss von Substanzen bei der Einweisung ausfällig werden. „Ich bin sehr überrascht, wie wirksam die Handgriffe sind, obwohl man gar keine Kraft anwenden muss.“ Kerstin aus der Notaufnahme meint: „Mir gefällt das Training richtig gut. Allerdings sehen die Methoden bei den Trainern einfacher aus als sie sind, wenn man es dann selber macht.“ Darum sind ja in den nächsten Monaten für sie und die anderen auch noch elf weitere Module vorgesehen, um das Gelernte zu festigen und weitere Tricks zur körperlichen Deeskalation zu lernen!
Text: DRK Kliniken Berlin / Maja Schäfer
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