Wir stellen euch heute einen besonderen Fachbereich der Pflege vor: die psychosomatische Pflege. Die unterscheidet sich deutlich von der Pflege zum Beispiel in der Gastroenterologie oder Chirurgie, aber auch von enger verwandten Bereichen wie der Psychiatrie. Du bist zum Beispiel eher damit beschäftigt, Patient*innen zu Entspannungsübungen anzuleiten als sie umzulagern. Chefarzt PD Dr. Tobias Hofmann und Abteilungsleiterin Antje Westendorf in unserer Wiegmann Klinik beschreiben ihren Arbeitsalltag im Interview sehr anschaulich – und machen euch vielleicht ja sogar Lust, selbst mal in die Psychosomatik reinzuschnuppern.
Wir betreuen Patient*innen mit chronischen Beschwerden in unterschiedlichen Körperregionen wie Kopf-, Gelenk-, Muskel-, Brust- oder Bauchschmerzen, mit Durchfällen oder Herzrasen oder mit Allgemeinsymptomen wie Erschöpfung und Müdigkeit, für die keine rein körperliche Ursache gefunden werden kann. Teilweise sind psychische Erkrankungen wie eine Depression, Angsterkrankung oder Essstörung diagnostiziert.
Seit 75 Jahren behandeln wir in der Wiegmann Klinik mit einem „psychodynamisch-psychosomatischen“ Konzept. Stationäre Patient*innen und Patient*innen der Tagesklinik nehmen tagsüber am selben therapeutischen Programm teil. Wichtig ist die tiefenpsychologisch fundierte oder analytische Psychotherapie als Einzeltherapie mit zwei bis drei Therapiesitzungen pro Woche. Zusätzlich gibt es – mindestens ebenso wichtig – Gestaltungs-, Musik- und Konzentrative Bewegungstherapie. Auch Ergotherapie, Bewegungs- und Physiotherapie, Expositionstraining, Entspannungsverfahren und vieles mehr stehen auf dem Programm.
Leider gibt es bisher noch keine Fachweiterbildung für psychosomatische Pflege wie in anderen Gebieten der Medizin. Es ist nicht so, dass man bei uns hinter sich lässt, was man in anderen Abteilungen gemacht hat, aber es gibt doch Unterschiede. Grundsätzlich kann man sagen: Grundpflege fällt bei uns kaum an, ich muss den Patient*innen nicht beim Zähneputzen helfen und auch nicht ihre Betten beziehen. Das können sie selber tun. Ich stelle aber Medikamente, wiege die Patient*innen, bereite Blutentnahmen und Infusionen oder Magensonden vor.
Zudem arbeiten wir in der Bezugspflege – bzw. kann man es auch Primary Nursing nennen. Jede Pflegekraft betreut zusätzlich zu der täglichen Stationsarbeit 3 bis 4 Patient*innen im besten Fall über die gesamte Behandlungszeit mit. Zur Bezugspflege gehören wöchentliche Gespräche, die ganz wie auf anderen Stationen an einen Pflegeprozess geknüpft sind, und die genaue Beobachtung der Patient*innen im Stationsalltag. Zudem sollte die Bezugspflegekraft als Vertrauensperson von den Patient*innen wahrgenommen werden und neben der Pflegekraft im Dienst erste*r Ansprechpartner*in bei Problemen oder Krisen sein.
Zusätzlich kann ich als Pflegekraft nach der Einarbeitung zum Beispiel das Autogene Training, die Progressive Muskelrelaxation oder die Morgenrunde selbstständig anleiten und gebe dem Tag Struktur, indem ich dafür sorge, dass die Patient*innen an Therapien, Mahlzeiten und anderen Angeboten teilnehmen. Aber vor allem bin ich mit dem gesamten Team dafür zuständig, eine Atmosphäre – wir nennen es „Milieu“ – zu schaffen, in der Heilung möglich ist.
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Das Milieu entsteht durch eine zugewandte und empathische Grundhaltung, aber auch durch Regeln bzw. Vereinbarungen für den Umgang untereinander und durch individuelle Verabredungen mit einzelnen Patient*innen. Man merkt sofort, wenn man durch die Eingangstür kommt, dass eine andere Stimmung herrscht als auf einer klassischen Krankenhausstation.
Eine solche Atmosphäre muss permanent vom Behandlungsteam hergestellt werden, sie entsteht nicht von alleine. Sie ist ein entscheidender Faktor für den Behandlungserfolg. Wenn die Einzeltherapie einen schwierigen Verlauf nimmt, kann der Aufenthalt in der Wiegmann Klinik Patient*innen trotzdem entscheidend weiterbringen. Wenn aber kein gutes Milieu besteht, ist es sehr schwer, gesünder zu werden.
Die beiden Bereiche sind nicht immer deutlich voneinander abzugrenzen. Ein Patient mit einer Depression oder Angststörung kann oft sowohl in der Psychiatrie als auch in der Psychosomatik versorgt werden. Es kommt sehr darauf an, wie stark körperliche Symptome eine Rolle spielen. Wenn jemand suizidgefährdet ist oder unter wahnhaften Symptomen leidet, geht er oder sie in die Psychiatrie. Auch eine regionale Pflichtversorgung oder Behandlungen gegen den Willen der Betroffenen haben wir bei uns nicht. Unsere Stationen bieten ein „geschütztes“, aber nicht geschlossenes Umfeld. Das heißt, es wird dafür gesorgt, dass Unbefugte nicht eintreten können.
Psychosomatische Patient*innen sind nicht per se weniger anstrengend und herausfordernd als psychiatrische Patient*innen. Wenn jemand Schmerzen hat und keine körperliche Erkrankung dahintersteckt, kann er oder sie durchaus sehr fordernd werden nach dem Motto: „Sie müssen doch endlich mal was finden!“ Menschen mit Essstörungen versuchen womöglich Vereinbarungen zu hintergehen und ihre ungesunden Verhaltensweisen heimlich weiterzuführen. Dass die Patient*innen freiwillig bei uns sind, bedeutet auch nicht automatisch, dass sie gerne bei uns sind. Vielleicht hat der Ehepartner mit Trennung gedroht, wenn der Patient sich nicht um seine Beschwerden kümmert, und der Patient möchte das vermeiden. Aber trotzdem ist er vielleicht nicht einsichtig, dass er Hilfe braucht. Wir als Team müssen uns dann vor Augen führen, dass so ein Verhalten zur Erkrankung gehört und nicht gegen uns gerichtet ist.
Im Idealfall verändern die Patient*innen während der Zeit bei uns ihre Sichtweise von sich selbst. Sie lernen, mit ihren Beschwerden klarzukommen und sie zu akzeptieren. Sie beginnen, anders mit sich selbst und anderen umzugehen. Das trägt zur Linderung ihrer aktuellen Beschwerden bei und schützt sie vor zukünftigen Krisen, also davor, in Stresssituationen nicht wieder eine ausgeprägte Symptomatik zu entwickeln.
„Resilienz“ ist fast schon ein Modewort geworden und wird inflationär verwendet, aber im ursprünglichen Sinne des Wortes ist Resilienz das Ziel. Denn Krisen gehören zum Leben dazu, man kann niemanden davor bewahren. Aber man kann lernen, damit umzugehen. Wenn man Resilienz aufgrund ungünstiger Umstände in der Kindheit nicht früh entwickeln konnte, können wir im Idealfall eine „Nachreifung“ anregen.
Du arbeitest lieber mit jungen Patient*innen? Für unsere Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Spandau suchen wir Dich auch als Pflegefachkraft oder Erzieher*in!
Für die Psychosomatik entscheiden sich Berufseinsteiger*innen, die mehr Zeit für einzelne Patient*innen haben möchten als sie es auf einer anderen Station im Krankenhaus hätten – allein schon weil die Patient*innen länger als drei Tage bei uns sind. Unsere Pflegeazubis haben im fünften Semester ihren Pflichteinsatz bei uns und merken schnell, dass wir hier mehr Gelegenheit zum Reden haben, denn die Patient*innen sind ja zum Reden hier.
Manche Pflegefachkräfte sagen, es sei nicht ihre Berufung, im psychosomatischen Bereich zu arbeiten, und das ist natürlich vollkommen okay. Aber wenn dahinter die Befürchtung steckt, dass man nicht genug Hintergrundwissen mitbringt, ist sie unbegründet. Man muss nicht zwingend psychosomatische oder psychiatrische Erfahrungen mitbringen. Im Gegenteil kann Berufserfahrung im somatischen Bereich sehr wichtig sein. Man sollte nur Lust darauf haben, sich bei uns zwischenmenschlich, also als Person, intensiv einzubringen und professionelle Begegnungen zu gestalten. Pflegefachkräfte im mittleren Alter, die Lebenserfahrung mitbringen und selbst schon Krisen überwunden haben, bringen sehr wichtige Impulse für die Patient*innen. Eine Herausforderung kann es anfangs manchmal sein, nach Feierabend abzuschalten.
Wir haben einen stationären Bereich mit 34 Patient*innen, in dem wir im 3-Schicht-System arbeiten. Das hat den Vorteil, dass durch die Nacht-, Feiertags- und Wochenendzulagen das Gehalt deutlich steigt und man zusätzliche Urlaubstage bekommt. In unserer Tagesklinik mit 25 Plätzen arbeiten wir nur im Frühdienst von 7.30 bis 16.30 Uhr. Hier ist der Vorteil, dass man geregeltere Arbeitszeiten hat. Bisher sieht unser Konzept vor, dass man sich für einen von beiden Bereichen schwerpunktmäßig entscheidet, aber auch im anderen Team aushilft. Es kann sein, dass sich das Konzept in Zukunft etwas ändert. In jedem Fall sind wir insgesamt ein über lange Jahre zusammengewachsenes, stabiles Pflegeteam und kommen ohne Leasingkräfte aus.
Interview: DRK Kliniken Berlin / Maja Schäfer
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